Hey Joe!
Glückwunsch! Sie als neuer Berliner Kultursenator verfügen womöglich über
mehr Einblicke in Prozesse künstlerischer Arbeit als die meisten ihrer
Vorgänger. Auf jeden Fall obliegt Ihnen die bedeutende Aufgabe, die
Rahmenbedingungen und Perspektiven der Berliner Kultur neu zu definieren und zu
gestalten, sowie Fehlentwicklungen in einzelnen Bereichen zu erkennen und
gegenzuwirken.
Als Musiker und Musikmanager sind Sie bestimmt auch mit der Problematik von
Coverversionen vertraut. In der Musikbranche existieren klare Regeln. Da sind
solche Fälle einfach nachweisbar und meistens wird ein Modus zwischen
Komponisten und Interpreten gefunden, der auf einen friedlichen
Interessensausgleich hinausläuft.
An den Theatern scheinen solche Regeln nicht eingeführt worden zu sein. Im
Gegenteil, man gibt sich im Zweifelsfall pikiert und versucht sogar,
gerechtfertigte Ansprüche zu pathologisieren. Frech nach dem Motto: „Wer sich
über den Diebstahl seines geistigen Eigentums beschwert, muss krank sein, denn
er entzieht sich dem Zeitgeist.“
Es gibt Fehlentwicklungen, deren Wirkungen verzögert eintreten. Ein Verfall
der guten Sitten bspw. führt irgendwann zu einem Image, das einer Branche
permanent anhaftet. „Gebrauchtwagenhändler“ schreibt vermutlich niemand gern
auf seine Visitenkarte. Vielleicht schicken bald einige Verlage keine
Manuskripte mehr an ein Berliner Theater, aus Sorge, dass ihre Texte
ausgeschlachtet werden. Als illegales "Ersatzteillager" für
Coverversionen zu dienen, zum Nutzen unzulänglicher Stücke und ohne Tantiemen,
dafür möchte niemand seine Arbeit hergeben. Weil eben an den Theatern im
Zweifelsfall keine klaren Regeln definiert worden sind, wie mit Beschwerden
über urheberrechtliche Fragen umzugehen sei. Hier sind Sie gefordert, Herr
Senator!
Diese Fehlentwicklung kommt dem allgemeinen Trend des zeitgenössischen
Theaters entgegen: Dem der Auflösung der Autorschaft. Im Kollektiv, im
postdramatischen Schreiben ohne Bühnenfiguren, oder im dramatischen
Dilettantismus der „inszenierten Seminararbeiten“.
Der eine Trend bestärkt den anderen.
Gedrechselte Dialoge und Monologe kunstvoll zu verfassen, erscheint derzeit
„Oldschool“. Da kommt es auf Essentials wie Urheberschaft bald ebenfalls nicht
mehr an. Das Urheberrecht, die rechtliche Basis künstlerischer Textproduktion,
wird an einem Theater in Berlin offenbar als Anachronismus betrachtet.
Dramatiker, ein aussterbender Beruf?
Wie etwa der des Bühnenschauspielers, der das Rollenstudium beherrscht und
die kunstvolle Sprache seinen Bühnenfiguren in den Mund zu legen weiß? Der mit
geschulter Sprechtechnik jede Nuance der dramatischen Verhandlung bis in die
letzten Reihen des Theatersaals übertragen kann?
Der Beruf des Bühnenschauspielers wird auf dieser aktuellen, blöden Reise,
hin zum wohlfeilen Nichts, ebenfalls für überflüssig erklärt. Man benutzt
gelernte Schauspieler zum Aufsagen von Fließtexten, entfremdet ihre Stimmen von
jeder Körperlichkeit. Erbärmlicher Missbrauch einer großen Kunst!
Die Frage muss denn auch erlaubt sein, wann die Berliner Theater in den
vergangenen Jahren eine Inszenierung von internationalem Rang hervorgebracht
hätten? Eine mit dem Prädikat „außergewöhnlich“? Etwas Vibrierendes,
Euphorisierendes, Wildes, Beängstigendes, Brutales, Verstörendes!
Donnerndes Theater eben, über das man in anderen Ländern debattiert.
Weswegen jemand unbedingt dringend nach Berlin müsste. Das gab´s schon lange
nicht mehr, weil ihr das Theater domestiziert habt, auf kleingeistige Weise
Kreative in einem absurden Regelwerk erstickt, Künstlern spießige Vorschriften
macht. Was man alles nicht darf, und wer unbedingt als nächster aus dem
Container rausgeschmissen werden muss, weil interne Codes geringe Beachtung
fänden. Damit beschäftigt ihr euch in manchen Berliner Theatern euren lieben,
dummen Tag lang.
Das Schlimme ist, den festgeklebten Protagonisten dieser Mittelmäßigkeit
fällt nicht einmal auf, wie schlecht ihre Ergebnisse geworden sind. Sie meinen,
wenn man sich gegenseitig erstickt, bleiben sie am Ende als Gewinner übrig.
Für welche Berliner Theaterinszenierung standen Zuschauer zuletzt in
Warteschlangen vor den Abendkassen, um vielleicht doch noch irgendwie zum
Einlass zu gelangen?
Vielleicht will Berlin seit einigen Jahren gar keine Hauptstadt der
Bühnenkünste mehr sein? Manchen genügt es, wenn das Wohnzimmer im Winter
kuschelig warm ist. Ein Desaster, das die Berliner Kulturpolitik mit zu
verantworten hat: Vor wenigen Jahren gab es noch ein Berliner Theater mit
internationalem Echo. Die Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz!
„Buy one ticket, get five extra for fünf Euro“
Wird dieses Modell aus der niedersächsischen Theaterprovinz, wo man einen
bedeutenden Choreographen wegen Dackelkacke verjagte, bald zum Vorbild für das
Schönfärben von Auslastungsquoten?
Subventioniertes Dumping-Theater zerstört die gering subventionierten freien
Theater. Wie kann es sein, dass Berliner Bühnen kein gemeinsames Theaterfest
feiern, um wenigstens einmal im Jahr aus dem Mief ihrer Institutionen
herauszutreten? Einmal im Jahr öffentlich bezeugen, wofür ihr steht, einmal das
eigene Anliegen vertreten!
Riskiert doch wenigstens einmal pro Jahr eine Präsentation vor dem gesamten
Spektrum der Bevölkerung! Viele habt ihr längst aus den Augen verloren, für die
sind eure Häuser NO GO AREAS.
Hey Joe, ich möchte Ihnen nicht zu viel zumuten. Berlin hat viele Probleme,
aber die Kultur hat manchmal für vorübergehendes Aufatmen gesorgt. Das fehlt!
Wie lang laufen manche Verträge schon? Wie lang laufen die noch?
Kündigen Sie Verträge, werfen Sie die allzu (un)reifen Birnen raus! Einige
der zurzeit regierenden Intendanten und Intendantinnen verantworten ein Ausmaß
an Mittelmäßigkeit, einen Niedergang der Schauspielkunst, der Ensemblearbeit
und des Bühnenhandwerks, wie es in keiner früheren Spielzeit jemals
stattgefunden hat. Die Berliner Schauspielbühnen mutieren zu Gastspielhäusern
für internationale Produktionen, weil die alte Garde der künstlerischen Berufe
in Rente geht und ihr Können nicht weitergeben darf. Man möchte das Theater neu
erfinden, aber möglichst ohne lästige Proben und sprachliches und
sprecherisches Niveau.
Doch der Bruch mit der Tradition des Schauspiels ist kein Effekt, der
dauerhaft Wirkung zeigt. Ist das eingeübte Ensemble erst einmal in die Netflix
Serien abgewandert, wo seriöse Arbeit stattfindet, dann erreichen die
Bühnenproduktionen nicht einmal mehr Mittelmäßigkeit!
In den dunkelsten Kapiteln entstanden oftmals die hellsten Inszenierungen.
Weil sich die Bühnenkunst aus sich selbst heraus Relevanz verschaffen kann.
Könnte, wenn man sie nicht domestiziert hätte, zur lächerlich läppischen
Trendveranstaltung von Selbstzensierten gemacht hätte. Die Bühnenkunst hat ihre
Wildheit verloren, erscheint so gezähmt wie ein artiger Stubentiger. Aus
Dramatikern und Dramatikerinnen sind Theaterworkshop Teilnehmer geworden. Ecken
und Kanten werden vom ersten Semester an gründlich abgeschliffen. Die tägliche
Radio 1 Gehirnwäsche funktioniert.
Die Gefangenen dieses Zeitgeistes wollen dramatische Literatur verfassen?
Das reicht höchstens zur Buchstabensuppe beinahe beliebigen
Zeichenzusammenhangs. Natürlich alles im Rahmen der wohlfeilen Trendthemen, die
bereits dermaßen infiltriert sind, dass Bürger zu Trendpolizisten mutieren.
Maßstab für Qualität ist die internationale
Beachtung.
Ernsthafte Künstler gehören immer und in allen Gesellschaften zu den
Minderheiten, aber hierzulande bilden die Zeitgeist Angepassten die
künstlerische Avantgarde. Sie haben sämtliche Außenseiter auf dem Gewissen, es
gibt praktisch keine Provokation.
Die Angst, aufgrund eines Verstoßes gegen die Corporate Identity der
Berliner Theaterdynastien aussortiert zu werden, beschattet die künstlerischen
Arbeitsprozesse wie zu Zeiten totalitärer Regime. Je tiefer die Selbstzensur in
sie eingedrungen und zur Selbstverständlichkeit geworden ist, desto angepasster
die Inszenierungen.
Künstlerisches Außenseitertum ist unabhängig von Hautfarbe, Sprache,
sexueller Orientierung und Herkunft. Es müsste vollkommen gleichgültig sein, ob
die bedeutende künstlerische Arbeit von einem alten weißen heterosexuellen Mann
oder von einer jungen, rothaarigen Transgender Diversen stammt, aber die
Bewertungen künstlerischer Arbeiten erfolgen geradewegs anhand der
rassistischen, physiologischen und biologistischen Stigmatisierung. So wird es
zwar niemals öffentlich proklamiert, aber de facto wird intern anhand dieser
Kriterien sortiert.
Das Bevorzugen ausgewählter Minderheiten fördert auf fatale Weise den
Begriff des „Exotischen“. Kulturschaffende werden dadurch nicht nur
gegeneinander ausgespielt, weil an seiner Abstammung und Herkunft natürlich
niemand etwas ändern kann und eigentlich alle gleichgestellt sein müssten, aber
hier wird einer Renaissance der verwerflichen „Freakshows“ der Weg bereitet.
Anstelle eines Abbaus von Grenzen erleben wir lediglich eine Verschiebung
von Grenzen, und damit eine Verschlimmbesserung der gesellschaftlichen
Realität.
Als Theaterautor habe ich in vielen Jahren meiner Arbeit zig Ausreden
darüber gehört, warum in Berlin kein Autorentheater möglich sei. Das
Schreibhandwerk dramatischer Literatur, das Stückeschreiben, kann aber allein
für sich nicht überleben. Ohne das Echo einer Bühne bleibt jeder Theatertext
unerfüllt, stehen alle Dramatikerinnen und Dramatiker, Komödiendichter und
Stückeschreiber im Abseits. Die "Neue Dramatik" Alibiveranstaltungen
an den staatlichen Bühnen verhindern die Entwicklung eines selbstbewussten
dramatischen Schreibens, siehe oben.
Hey Joe, überantworten Sie mir und meinen Kollegen und Kolleginnen in Berlin
eine große Experimentierbühne, um einen kompletten Spielplan mit neuer Dramatik
zu füllen. Verschließen Sie ihre Ohren vor den Einflüsterungen der
Festgeklebten, dies sei utopisch. Wir beweisen, wie erfolgreich das wird.
Herr Senator, geben Sie uns die Baracke vor dem Deutschen Theater zurück!
Oder das Schillertheater! Oder die Freie Volksbühne!
Wer wie ich mehr als 20 Theaterstücke verfasst hat, ist dafür ausreichend in
Vorleistung gegangen. Und werfen Sie diejenigen raus, die das Urheberrecht
nicht respektieren. Dann wird ausreichend Platz.
Volker Lüdecke, Berlin