Der Rücktritt des Berliner Kultursenators Joe Cialo
brachte die desaströse Kulturpolitik des Berliner Senats kurzfristig zurück in
die News.
Angesichts der Einsparungen von 130 Millionen Euro im
Kulturetat 2025 ist sein Rücktritt immerhin eine konsequente Entscheidung, die
Respekt verdient.
Die aber insgesamt träge Aufmerksamkeit auf dieses
Thema offenbart die grundlegenden Fehler auf Seiten der politisch
Verantwortlichen und auf Seiten der Berliner Kulturszene.
Wer für seine Arbeit keine Rechnungen stellt, wird für
seine Arbeit auch nicht bezahlt.
So einfach ist das und diese Binse trifft den Kern des
Missverständnisses, was Kulturarbeit tatsächlich leistet.
Das scheinbar Selbstverständliche, das immer irgendwie
da ist, wird nicht als Leistung, sondern als Selbstverständlichkeit
wahrgenommen. Darin unterscheidet sich die Kultur nicht von der äußeren
Sicherheit, die auf einmal mehr Geld kostet, seit sie fehlt, weil Russland die
Ukraine überfallen hat.
Fehlte von heute auf morgen die gesamte Berliner
Kultur, würde allen Bürgern und Bürgerinnen der Hauptstadt deutlich vor Augen
geführt, welchen Wirtschaftseffekt wir durch unsere kreative Arbeit erzielen.
Und dass es absolut gerechtfertigt ist, unsere Leistungen in Rechnung zu
stellen.
Dafür benötigen wir einen unbefristeten Kulturstreik
in Berlin!
Allein ein umfassender Streik, der alle Sparten der
Berliner Kultur einschließt, sämtliche Theater, Museen, Opern, Philharmonie,
Tanzensembles, Bibliotheken, Galerien, Konzerthallen, Kinos, Festivals,
Musikclubs, Performancekünstler, Lichtgestalter, DJs und DJanes, Bands, Autoren
und Autorinnen, Maler und Malerinnen, Filmproduzenten und Filmproduzentinnen,
Architekten und Architektinnen, Bildhauer und Bildhauerinnen und die vielen
anderen Kreativen, die das Image Berlins prägen, die mit ihren Werken die Stadt
Berlin über Jahrzehnte zu einem der beliebtesten Reiseziele weltweit gemacht
haben, könnte die Öffentlichkeit aufklären. Babelsberg sei an dieser Stelle
ebenfalls herzlich mit eingeschlossen.
Wir alle zusammen haben erreicht, dass Berlin auch von
zahlreichen Fachkräften als attraktiver, multikultureller Standort für den
eigenen Arbeitsplatz wahrgenommen wird. Berlin gilt als lebendige Stadt, in der
sich rund um die Uhr Kultur erleben lässt.
Wir haben erreicht, dass die Kassen der Hotels, der
Bars, der Restaurants, der Deutschen Bahn, der Fluggesellschaften, des BER, des
Nahverkehrs BVG, der Busunternehmen, der Shopping Malls, Diskotheken und
Andenkenläden, der Späties und Tankstellen, der Bordelle und Massagesalons und
der Dealer und sonstiger Händler gefüllt werden, und damit viele Berliner und
Berlinerinnen in Lohn und Brot stehen.
Nur durch einen Kulturstreik werden diese Unternehmen
erkennen, welche Bedeutung wir für ihr Business haben. Ohne einen Streik werden
wir auch in Zukunft als Gratisdienstleister und Gratiswerbetreibende
missbraucht werden.
Vom ersten Streiktag an werden ihre Bilanzen brutale
Verluste zu verzeichnen haben, aber erst dann werden sie dazu bereit sein, mit
uns zusammen auf die Straße zu gehen.
Diese neue Sicht auf die vorherrschende Struktur der
Kulturförderung in Berlin werden bestimmt nicht von denen geteilt, die über die
Vergabe der Fördermittel entscheiden. Weder die zuvorderst Begünstigten noch
die politisch Verantwortlichen werden diesen Streik unterstützen. Sobald ihre
Kultureinrichtungen halbwegs gesichert sind, werden sie sich nicht mehr mit den
unabhängigen Kulturschaffenden solidarisieren, die ihre Leistungen für die
Stadt Berlin genauso berechtigt in Rechnung stellen können.
Die Höhe ihrer Subventionen könnten ja andere
Kulturschaffende dazu ermuntern, vergleichbare Beträge zu fordern. Aber ohne
ein bisschen Widerstand gegen die Sparmaßnahmen kommen sie auch nicht aus. Ein
paar nette, spaßige Aktionen dürfen schon sein. Dafür finden sich Clowns, die
den Protest wie ein „Umsonst und Draußen“ Festival aussehen lassen. Das ist
"einvernehmlicher Widerstand" und so wirkungsvoll wie Mottoficken a
la "Make Love not War".
Nach dem Rücktritt von Joe Cialo hat die designierte
Kultursenatorin Sarah Wedl-Wilson sich bereits beliebt gemacht, um das Problem
der Finanzierung der Berliner Kultur möglichst geräuschlos über die Bühne zu
schieben.
Scheinbar stellt sie sich auf die Seite der
Kulturschaffenden, indem sie rhetorisch geschickt weitere Kürzungen für die
kommenden Jahre ablehnt. Die 130 Millionen Kürzungen sind mit ihrem
visionär-hypothetischen „Blick in die Zukunft“ kein Thema mehr, und sie positioniert
sich einvernehmlich.
Bravo, ein rhetorisches Meisterstück der Politik!
Die tatsächliche Lage der Mehrheit der Berliner
Kulturschaffenden gerät im Schatten solcher Manöver aus dem Blickfeld. Die
bislang gering, oder gar nicht geförderten Sparten der Hauptstadtkultur spielen
keine Rolle in dieser Vision von der Zukunft Berlins. Dabei schrumpfte gerade
in den letzten Jahren die freie und unabhängige Kulturszene in Berlin, nicht
zuletzt aufgrund von gestiegenen Mieten und Lebenshaltungskosten. Berühmte
Kultureinrichtungen wie das „Mensch Meier“ und viele andere Clubs und Spielstätten
mussten schließen.
Um den tatsächlichen Schaden für Berlin realistisch zu
beziffern, müssen die Beträge sämtlicher Rechnungen addiert werden.
Vergleicht man einmal den weltweiten Ruf des
Kulturtempels Berghain mit dem internationalen Image des Kulturtempels
Friedrichstadtpalast, brauchen sich beide nicht voreinander zu verstecken.
Ähnlich ließen sich viele ähnliche Vergleiche ziehen. Eine Neubewertung der
unabhängigen Berliner Kultureinrichtungen ist dringend erforderlich.
Natürlich kann sich das Berghain seine DJs leichter
leisten als der Friedrichstadtpalast sein Ensemble und seine Bühnengewerke. Es
ist unbestritten, dass die Ensembles und Orchester Berlins einen ungeheuren
Aufwand betreiben müssen, um im internationalen Vergleich zu bestehen. Auch für
sie darf es keine Einsparungen geben, denn keine Sparte der Kultur darf gegen
eine andere ausgespielt werden.
Die Bedarfe müssen vollumfänglich erfasst und endlich
fair beglichen werden. Dafür müssen zum Ende des Streiks neutrale Schlichter
und Schlichterinnen die für Berlin zukunftsweisende Debatte führen. Für alle,
die ihre Kulturarbeit über Jahre bewiesen haben, müssen angemessene und faire
Lohnangebote entstehen.
Es geht darum, wie Berlin in zehn Jahren aussehen
soll: Eine gesichtslose Touristenboutique oder eine lebendige Kulturstadt mit
eigenem Pulsschlag?
Der sogenannten Geberseite muss endlich klarwerden,
dass sie defacto eine harsch ausbeutende Nehmerseite ist. Und der sogenannten
Nehmerseite muss endlich bewusst werden, dass sie mächtiger ist als sie
scheint.
Berlin ist für Kulturschaffende keine billige
Spielwiese mehr, sondern ein teures Pflaster. Auch diese Entwicklung muss
berücksichtigt werden. Flächen und Liegenschaften müssen für Festivals,
Probenräume und Ateliers bereitgestellt werden!
Die bisherigen Strukturen der Berliner Kulturförderung
sind veraltet und weder fair noch gerecht. Wer ohne eigene Dynastie oder
Lobbyisten dasteht, liest bei Antragstellung für Projektgelder die bekannten
Sätze des Kultursenats: „Förderung nach Haushaltslage“.
Welch Aufschrei würde erfolgen, würde bspw. Siemens
seinen Angestellten „Bezahlung nach Auftragslage“ anbieten?
Ein unbefristeter Kulturstreik kann erreichen, dass
Reisen nach Berlin kurzfristig unattraktiv werden: Tickets gelten nicht mehr,
Konzerthallen bleiben geschlossen, Philharmonie, Literaturhäuser, Kinos,
Buchläden, Theater, Tanzensembles und Opern sind dicht und die DJs legen in den
Clubs nicht mehr auf. Bibliotheken, Ton- und Filmstudios arbeiten nicht, keine
Festivals, Dreharbeiten werden verschoben, Museen und Galerien bieten zur
Besichtigung verschlossene Pforten, Straßenmusiker bleiben stumm.
Die Hauptstadt wie in den Zeiten der Pandemie, das
würde weltweit Aufmerksamkeit erregen!
Ein Denkzettel, der eine lange Liste zur Begründung
hat, denn dieser Kulturstreik kämpfte damit weltweit für eine faire Anerkennung
von Kulturarbeit. Für den Wandel im öffentlichen Bewusstsein dahin, endlich zu
begreifen, was Kunst und Kultur für die Metropolen leisten.
Dass wir nicht um Almosen betteln, sondern lediglich
unseren Arbeitslohn einfordern!
Wer diesen Bewusstseinswandel blockiert, muss sich
eines Tages die Frage gefallen lassen, warum Kulturbegeisterte in der ganzen
Welt Berlin meiden. Diejenigen müssen erklären, warum über Jahrzehnte
gewachsene Fähigkeiten und Talente verdrängt wurden und durch Gastspielbühnen
und Touristennepp nicht ersetzt werden konnten.
Ein unbefristeter Kulturstreik wäre auch eine Chance,
die verkrustete Fragmentierung des Berliner Kulturlebens mit seinen Ost-West
Rivalitäten, überkommenen Erbhöfen und hermetischen Kultursektoren
aufzusprengen.
In den 80er und 90er Jahren waren die
Kultureinrichtungen noch durchlässig, heute erscheinen viele hermetisch
abgeschottet wie eine Sekte.
Offenheit und Durchlässigkeit sind aber Voraussetzung für
eine Berliner Kultur, die sich im internationalen Vergleich durch
unverwechselbare Originalität auszeichnet. Nachahmen und Importieren können
viele, aber Originelles entsteht nur im Zusammenspiel zwischen innovativer
Subkultur und lokaler Präsentation.
Berlin braucht für seine Zukunft eine
Kulturgewerkschaft, die den Nutznießern der Kulturarbeit eine gerechte
Kultursteuer abtrotzt. Deren Erträge mögen dann in Zukunft fair verteilt
werden!
Volker Lüdecke